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„Nach der Promotion wird alles besser!“

2016 wurden mein Partner und ich ein Paar. Damals steckte er mitten in der Promotion und ich hatte keine Ahnung, was das für uns bedeuten würde. Wir sprachen relativ schnell über Kinder und ich bekam die Antwort: „Irgendwann will ich welche, aber im Moment kann ich es mir nicht vorstellen.“ Dass dieser Satz uns bis heute begleiten würde, war uns damals nicht klar. „Nach der Promotion wird alles besser!“ Damit vertröstete mein Partner uns immer wieder. Ich weiß, dass er das selbst geglaubt oder zumindest gehofft hat. Aber die Erfahrung hat uns eines Besseren belehrt.

Als er 2019 im Sommer seinen kompletten Jahresurlaub am Stück genommen hatte und seine Doktorarbeit endlich fertigstellen konnte, war die Hoffnung groß, dass es jetzt wirklich besser würde. Wieder mehr Zeit für uns. Ein geregeltes Leben. Weniger Stress. Und vielleicht ja auch demnächst die Familiengründung. Aber mein Partner entschied sich, zunächst in der Wissenschaft zu bleiben. Er wollte den steinigen Weg hin zur Professur wenigstens versuchen. Wir gerieten in eine Krise, ich trennte mich – kurzzeitig. Wir haben uns wieder zusammengerauft. An den Umständen hat das leider nichts geändert. Nach wie vor diktiert das Wissenschaftssystem unser Leben, da wir beispielsweise Freizeitaktivitäten und Urlaube häufig nach den Deadlines und Terminen meines Partners ausrichten müssen. Natürlich könnte man sagen: „Selbst schuld!“ Aber jede:r, der/die mit diesem System in Berührung kommt, weiß: Man kann sich dem Hamsterrad nur schwer entziehen.

“Irgendwann macht der Körper nicht mehr mit”



Lehre, Deadlines, Publikationsdruck, befristete Stellen, Drittmitteleinwerbung und noch vieles mehr hinterlässt über kurz oder lang Spuren. Die Arbeit meines Partners ist in unserem Leben allgegenwärtig. Wochenenden und Feiertage sind selten komplett frei – schnell noch eine Arbeit korrigiert, kurz eine Mail beantwortet, die letzten Quellen nachgetragen und dann fordert die Zeitschrift ungeplant eine „Major Revision“, also eine fundamentale und sehr zeitaufwändige Überarbeitung eines eingereichten Artikels. Eine fehlende/inadäquate Zeiterfassung tut ihr Übriges. Irgendwann macht der Körper nicht mehr mit – auch bei meinem Partner: Schlaf- und Verdauungsstörungen, depressive Verstimmungen, Verspannungen, Bluthochdruck und ein Hörsturz. Krank zu sein ist in diesem System aber nicht so einfach. Natürlich ist eine Krankmeldung möglich und man muss dann (hoffentlich) auch nicht bei allen Terminen erscheinen. Aber die Konsequenz daraus ist, dass die Deadlines weiterlaufen.

Und die Kinderfrage? Ja, die bleibt bis auf Weiteres ungeklärt. Denn der Wunsch meines Partners, als Vater gesund und unbefristet angestellt zu sein, ist durch die Postdoc-Phase auch weiterhin nicht gegeben. Sicherlich ist es nicht für jede:n so hart, manche Menschen sind resilienter und können mit den Gegebenheiten besser umgehen. Aber dennoch sind diese Probleme nicht nur individuelle; sie werden durch das deutsche Wissenschaftssystem mit erzeugt und von diesem und den damit zusammenhängenden Wissenschafts- und Hochschulpolitiken verstärkt. Und es werden auch nicht nur diejenigen in Mitleidenschaft gezogen, die sich dazu entscheiden, ihre Leidenschaft, ihren Idealismus, ihre Arbeitskraft und ihr Wissen dem deutschen Wissenschaftssystem zur Verfügung zu stellen, sondern es leiden auch die Partner:innen, die Kinder, die Eltern und Freundschaften darunter.

Nach fast acht Jahren, in denen ich nun die Partnerin eines Wissenschaftlers in Deutschland bin, erstaunt es mich immer noch, wie wenig Wertschätzung Wissenschaftler:innen entgegengebracht wird. Nicht nur seitens der Arbeitgeber oder der Politik; zuletzt wird auch zunehmend über Anfeindungen aus der Gesellschaft berichtet. Es wird so viel Potential vergeudet: Die Menschen arbeiten in befristeten (Teilzeit-)Verträgen, obwohl sie weit mehr als 100 Prozent und unbezahlte Überstunden leisten, müssen neben der eigentlichen Arbeit noch ehrenamtliche Tätigkeiten erledigen (zum Beispiel Gutachten, Gremienarbeit, Drittmittelanträge …), sollen für solche Stellen aber flexibel bleiben und möglichst umziehen und am Ende fliegen sie häufig aus dem System. Je nach Alter wird die Jobsuche außerhalb des Systems schwieriger – und das, obwohl sie zu den bestausgebildeten Menschen in Deutschland gehören.

Bedingungen in Academia


Ich höre immer wieder, dass die Bedingungen in Academia „nun mal so sind“. Und wenn man sich für diesen Weg entscheide, nähme man das eben in Kauf. Ich möchte dem widersprechen: Zunächst haben mein Partner und ich erst über die Jahre hinweg erahnen können, wie das deutsche Wissenschaftssystem wirklich funktioniert. Zudem möchte ich hervorheben, dass all diese Gegebenheiten nicht in Stein gemeißelt sind. Leider bewegt sich im Moment noch viel zu wenig dort, wo wirklich etwas verändert, entschieden, verbessert werden könnte. Oftmals profitieren gerade diejenigen, die etwas verändern könnten, vom aktuellen System.

Zum Glück ist die ganze Thematik in letzter Zeit verstärkt präsent, wie durch #IchBinHanna, Beiträge in den Medien, Podcasts und die politische Diskussion um das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG). Leider wird meines Erachtens aber zu wenig besprochen, wie ganz konkret die Arbeitsbedingungen, die alltäglichen Probleme, Hürden und Herausforderungen für die Wissenschaftler:innen aussehen und wo der Leidensdruck für die Wissenschaftler:innen und deren Angehörige liegt. Gerade das Thema Partnerschaft, Familie und Gesundheit (neben vielen anderen) kommt aus meiner persönlichen Sicht in der Diskussion noch deutlich zu kurz.

Und während an anderer Stelle die Verantwortung vom Bund zum Land zu den Universitäten und wieder zurückgeschoben wird, fragen wir uns, wie es für uns weitergehen kann. Ich sehe die Ambitionen, den Willen etwas bewirken zu können. Ich sehe die Leidenschaft für die Forschung und die Themen sowie die Notwendigkeit, die „Fahne der Wissenschaft“ in Zeiten zunehmender Krisen, Polarisierung und Wissenschaftsfeindlichkeit hochzuhalten. Gleichzeitig sehe ich die Notwendigkeit für meinen Partner, um seiner Gesundheit und seiner Zukunft willen, das deutsche Wissenschaftssystem zu verlassen.

Die Autorin
Carolin Becker ist 34 Jahre alt und hat nach einem Lehramtsstudium in Mathematik und Biologie (1. Staatsexamen) einen Quereinstieg in die IT des öffentlichen Dienstes gemacht. Ihr Partner ist ein promovierter Wirtschaftswissenschaftler und 38 Jahre alt. Er erforscht sozialwissenschaftliche Aspekte von Nachhaltigkeitstransformationen.

Hinweis der Redaktion: Unter der Rubrik „Kommentar“ können Menschen, die sich mit dem akademischen System auseinandersetzen, einen Gastbeitrag veröffentlichen. Dies kann eine Beschreibung der eigenen Arbeit, ein Erfahrungsbericht oder ein Kommentar zu einem aktuellen Thema sein. Die Inhalte spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung von RespectScience e.V. wider.

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Psychische Erkrankungen im Studium: Betroffene sind nicht allein

“Psychisch krank?! – Ich doch nicht!”, so habe ich auch gedacht, als mir 2021 „der Stecker gezogen wurde“ und ich plötzlich keine Kraft mehr hatte, das Bett zu verlassen, obwohl ich sonst stets quicklebendig, gut gelaunt und fleißig war. Nicht ohne Grund wird Depression mit einem GdB (Grad der Behinderung) bewertet. Je nach Symptomausprägung kann der GdB auch höher als 50 sein und somit würde man von einer Schwerbehinderung sprechen (vgl. DAV 2018). Vielen Betroffenen wird ihre Erkrankung dennoch bis heute als „Anstellerei“ angekreidet und mit Sprüchen wie „Geh mal an die frische Luft!“ abgetan. Natürlich denkt man bei Behinderung zunächst an körperliche Einschränkungen, die gerne salopp mit Sprüchen wie „Du bist doch behindert!“ verharmlost werden. Dabei gibt es, wie oben beschrieben, so viel mehr als das.

Leider sorgen Begriffe wie „Schizophrenie“ oder „bipolare Störung“ nach wie vor für Erschrecken und Panik – was nicht zuletzt auch ein wenig an reißerischer Pressearbeit
(Ironie off) liegt. Obwohl die Häufigkeit derartiger psychiatrischer Störungen auf den ersten Blick relativ gering scheint: An psychotischen Erkrankungen sind circa 2,6 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung erkrankt. Eine bipolare Störung hat circa 1,5 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung (vgl. Jacobi et al. 2014). In absoluten Zahlen gesprochen fällt die Häufigkeit schon deutlich eindrucksvoller aus: In Deutschland gibt es insgesamt fast 2,7 Millionen Betroffene, allein unter den genannten Diagnosen. Somit wäre mehr als ganz Hamburg betroffen. Und damit erübrigt sich schon einmal die Befürchtung einiger Betroffene, mit der Erkrankung allein zu sein. Auch wenn es sich anders anfühlt und immer wieder die Gedanken kommen “ich bin am schlimmsten dran” und “genau für mich gibt es keine Hilfe”, sieht die Realität anders aus.

Die Tabuisierung der Depression

Nun habe ich bewusst die Depression in meiner obigen Aufzählung ausgelassen, da dank viel Aufklärungsarbeit Depression kaum noch ein Tabuthema ist – da können wir ach so arbeitsscheuen „GenZ-ler“ uns auf die Schultern klopfen, denn im Vergleich zu mancher Vorgänger-Generation reden wir ehrlich(er) über unsere Befindlichkeiten.

Besonders bei Studierenden scheint das Thema nicht nur eine „Nischengruppe“ zu betreffen – im Gegenteil: Im Herbst 2021 gab es an der RWTH Aachen eine Umfrage unter 2900 Studierenden, die die eigene mentale Befassung auf Basis eines Fragebogens bewerten sollten. Dabei kam heraus, dass etwa 34,8 Prozent als psychisch auffällig zu bezeichnen waren und 61 Prozent der Studierenden die eigene mentale Gesundheit als schlecht angegeben haben (vgl. SGM 2021). Das ist fast jede zweite Person.

Die Befragung fand während der Corona-Pandemie statt. Bestimmte Ergebnisse könnten daher verzerrt sein, dennoch wird klar: Die Thematik muss genauer unter die Lupe genommen werden. Psychische Störungen sind leider „auf dem Vormarsch“ und das trotz technischen und medizinischen Fortschritts – ein Paradox?

Ich weiß, wovon ich rede, da ich selbst nach einem zweijährigen Maschinenbaustudium in 2021 an einer schweren Depression erkrankte und die Krankheit mich bis heute in schweren und milderen Episoden begleitet. Und ich kann sagen, wenn jemand dir offenbart, dass er oder sie an Depression erkrankt ist und du denkst: „Stell dich nicht so an!“, dann denke daran, dass dein Gegenüber vermutlich gerade jeden Tag kämpft und keinerlei Kraft dafür hat, auch nur morgens aus dem Bett zu kommen. Depressionen sind nicht nur eine potenziell tödliche Erkrankung, sondern auch mit einem unvorstellbaren Leid verknüpft. Außerdem belaufen sich die jährlichen Kosten in Deutschland aufgrund von Behandlungen und Arbeitsausfällen psychischer Erkrankungen auf etwa 42 Milliarden Euro (vgl. Henrich 2023).

Umdenken – und zwar jetzt!

Vermutlich kann man sich fragen, warum dieser Artikel jetzt in dieser Kommentarspalte erscheint, da er bis dato keine Relevanz für die akademische Arbeitswelt hat. Jedoch habe ich mir folgenden Satz aus der Vereinsbeschreibung zu Herzen genommen: „RespectScience hat das langfristige Ziel, durch Aufklärung einen Wandel des Wissenschaftssystems und eine Entlastung der wissenschaftlich Arbeitenden anzustoßen“. Die derzeitigen Arbeitsverhältnisse und Normalitäten vieler wissenschaftlicher Arbeitenden sorgen nicht nur für sehr hohen Stress (ein Risikofaktor für jegliche psychische Störung), sondern Betroffene haben aufgrund von fehlender Sensibilisierung auch viele Nachteile am Arbeitsplatz.

Beim gebrochenen Bein oder der Querschnittslähmung wird niemand fragen, warum man nicht läuft oder den ganzen Tag nur im Stuhl sitzt, aber wenn der Kopf streikt und das Verhalten „von der Norm“ abweicht – heißt es sofort, dass man spinnt und/ oder schwach sei, da man sich nicht zusammenreißen kann. Besonders bei hohen Workloads vieler Studiengänge kann es so also schnell zu Erschöpfungssymptomen oder auch Substanzmissbrauch kommen und die Antwort kann wohl kaum lauten, immer mehr Ärzte und Therapeuten einzustellen.
Ich benutze gerne die Phrase „es müsste noch einmal mehr menscheln“ um zu unterstreichen, was es meiner Meinung nach braucht. Keine künstliche Intelligenz (KI), keine Software – nein! Ein ernst gemeintes „wie geht es dir?“ und die Erlaubnis, auch mal „nicht so gut“ zu antworten, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Schlussendlich sind Lernende wie Lehrende gefragt, denn Veränderung geht nur ganzheitlich!

Der Autor
Luca Bischoni ist Psychologiestudent in Aachen. Auf seinem Instagram-Account, auf  Vorträgen und in Workshops klärt Luca über Depressionen aus der Sicht eines Betroffenen  auf. Im Jahre 2022 veröffentlichte er darüber hinaus im Gallip-Verlag sein Buch „Als man mir den Stecker zog“ über seine Depression.

Literaturverzeichnis

Henrich, Laura. (2023): Psychische Erkrankungen kosten die Wirtschaft bis zu 42 Milliarden Euro im Jahr, FOCUS

Jacobi, F. et al. (2014): Psychische Störungen in der Gesamtbevölkerung, Der Nervenarzt

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Anti-Schwarzer Rassismus in der Sozialwissenschaft und was wir dagegen tun können

Als Schwarze Frau (mit einem weißen Elternteil), Feministin und Studentin der Sozialen Arbeit, habe ich in den vergangenen Jahren erlebt, wie unglaublich gewaltvoll und ausgrenzend die Soziale Arbeit agiert. Und das bis heute. Dazu wird ihr Handeln durch die Sozialwissenschaft auch noch legitimiert. 

Das sozialwissenschaftliche Feld ist – entgegen aller Behauptungen – tief verwurzelt in strukturellem, anti-Schwarzem Rassismus. Es bringt weiterhin die Perspektiven und Stimmen Schwarzer Wissenschaftler*innen und Nicht-Wissenschaftler*innen zum Schweigen (vgl. z.B. Kelly, 2021). Ob dies bewusst oder unbewusst geschieht, spielt vorerst keine Rolle. Wer entscheidet überhaupt, wer Wissenschaftler*in ist oder nicht?

Die historische Betrachtung zeigt deutlich: Sozialwissenschaft ist maßgeblich von den Stimmen weißer Wissenschaftler*innen geprägt. Und das spiegelt sich in der Art wie sie in deutschen Institutionen, insbesondere in Hochschulen, praktiziert wird. Speziell ist sie dabei von weißen, akademischen Frauen geprägt, die den Diskurs beherrschen (vgl. z.B. Nguyen; Kiebel, 2023).

Genau deshalb ist es schlichtweg eine Lüge zu behaupten, dass die Sozialwissenschaft im akademischen Umfeld neutral, objektiv oder unpolitisch sei. Im Gegenteil: Der Status Quo, der sich aus den genannten Gegebenheiten zusammensetzt, trägt wesentlich zur Aufrechterhaltung rassistischer Strukturen bei. Sie werden dadurch immer wieder gestärkt.

Für mich ist die Tatsache, dass diese rassistischen Zustände bereits seit Jahrhunderten von vielen Schwarzen Menschen, speziell Schwarzer Feminist*innen, kritisiert werden, besonders frustrierend. Auch in der Sozialwissenschaft. 

Es sind nämlich gerade Schwarze Feminist*innen, die unglaublich bedeutende Analysen, Ergebnisse und wissenschaftliche Arbeiten zu den Themen race, class und gender geliefert haben (vgl. z.B. Davis 2022). Die Sozialwissenschaft eignet sich diese bis heute an, ohne dafür angemessene Anerkennung zu geben.

Was also tun?

In Anbetracht der gegebenen Realität, ist es meiner Meinung nach super wichtig, die epistemische Gewalt von wissenschaftlichen Institutionen zu durchbrechen. Aber auch ehrlich darüber nachzudenken, ob wir diese Gewalt überhaupt mit Fortbestehen dieser Institutionen durchbrechen können (vgl. z.B. Thompson 2021). Dafür ist es nötig, sich einzugestehen, dass es für eine Gleichberechtigung einen radikalen Wandel im Wissenschaftssystem braucht. Das heißt auch, dass weiße Wissenschaftler*innen Macht, Ressourcen und Deutungshoheit abgeben müssen(!). 

Es reicht nicht aus, sich mit Reformen zufriedenzugeben. Wir müssen Wissenschaft komplett neu denken. Nur so können alle Menschen dazu befähigt werden, Wissen zu re_produzieren. Heute kann es nur ein kleiner Teil Akademiker*innen, die die Wissensre_produktion an sich reißen. Vor allem Professor*innen, da diese am meisten davon profitieren. Dabei geht es vor allem auch darum Schwarze, aber auch andere marginalisierte Stimmen, Analysen, Perspektiven etc. zu fördern, diese ernst zu nehmen und vor allem auch wertzuschätzen. Und letztendlich auch darum, sich vom kapitalistischen System zu lösen und Ressourcen fair zu verteilen.

Mein Appell geht da auch speziell an weiße Frauen in der Sozialwissenschaft, die ich dazu auffordern möchte, sich in der Praxis, nicht nur in der Theorie, solidarisch zu verhalten und auch den Platz freizumachen, wenn es nötig ist. Denn wir können vor allem im Bereich „Diversity, Equity & Inclusion (DEI)“ (Auf Deutsch: Vielfalt, Gleichberechtigung und Eingliederung) sehen, dass ihr das nicht tut.

An meine BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) Geschwister in german academia möchte ich zum Schluss noch sagen:

Lasst euch bitte, bitte, bitte von niemandem einreden, dass eure Perspektive „nicht wissenschaftlich“, „zu emotional“ oder „zu subjektiv“ seien. Es ist Bullshit – einfach nur ein Werkzeug, um uns immer wieder zum Schweigen zu bringen. Eure Emotionen sind valide und eure Perspektiven sind wichtig! Egal was white academia euch erzählt! Lasst uns gemeinsam Räume schaffen, in denen wir wachsen können und nicht nur immer wieder aufs Neue erniedrigt werden!

Die Autorin
Tarah Truderung ist Bildungsreferentin, studiert im Master soziale Arbeit und ist als Aktivistin tätig. Auf ihrem Instagram-Account, auf Vorträgen und in Workshops klärt Truderung über strukturellen Rassismus an Hochschulen auf.

Literaturverzeichnis

Davis, Angela Y. (2022): Rassismus, Sexismus und Klassenkampf, 1. Aufl. Münster: Unrast.

Kelly, Natasha A. (Hrsg.) (2021): Rassismus: strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen!, 1. Auflage. Zürich: Atrium.

Kilomba, Grada (2020): Plantation memories: episodes of everyday racism, 6th edition. Münster: UNRAST-Verlag.

Nguyen, Tú Qùybh-nhu; Kiebel, Johanna (2023): Die Soziale Arbeit als feminisierter white space. Mäglichkeitsräume und Widerstandsstrategien von weißen* und nicht-weißen* Frauen* in sozialen Ungleichheitsverhältnissen, Grin Verlag.

Roig, Emilia (2021): Why we matter: das Ende der Unterdrückung, 1. Auflage. Berlin: Aufbau.

Thompson, Vanessa E. (2021): Rassismus an der Hochschule. Intersektionale Verstrickungen und Möglichkeiten des Abolitionismus. In: Dankwa, Serena Owosua; Filep, Sarah-Mee; Klingovsky, Ulla; u. a. (Hrsg.) (2021): Bildung.Macht.Diversität: Critical Diversity Literacy im Hochschulraum, Bielefeld: transcript (Kultur und soziale Praxis).

Zakaria, Rafia (2022): Against white feminism: wie weißer Feminismus Gleichberechtigung verhindert, München: hanserblau.

Hinweis der Redaktion: Unter der Rubrik „Kommentar“ können Menschen, die sich mit dem akademischen System auseinandersetzen, einen Gastbeitrag veröffentlichen. Dies kann eine Beschreibung der eigenen Arbeit, ein Erfahrungsbericht oder ein Kommentar zu einem aktuellen Thema sein. Die Inhalte spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung von RespectScience e.V. wider.

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Geschlechter-bezogene Belästigung an Unis  – «wie heftig kann es eigentlich unter dem Deckmantel abgehen?»

Der aktuellen UNI-SAFE-Umfrage zufolge erleben 60 Prozent der Beschäftigten und Studierenden an deutschen Universitäten geschlechterspezifische Belästigung. Ein Blick auf die statistischen Wahrscheinlichkeitsfaktoren von Belästigung zeigt, dass die Zahlen im Hochschulkontext nicht zufällig so hoch liegen. Denn die Hochschule ist ein System mit strengen Hierarchien, indem die Menschen im ständigen Wettbewerb zueinander stehen und unausgeglichene Geschlechterverhältnisse herrschen. Diese genannten Punkte, stehen im Zusammenhang mit der Auftretenswahrscheinlichkeit von Belästigung, so die Forschung. Demzufolge ist das Wissenschaftssystem mit seinen kurzen Vertragslaufzeiten, seinen starren Hierarchien und seiner Obacht vor (meist männlichen) Koryphäen, die auf der Basis ihrer Publikationen nahezu göttergleich über Karrieren und Ansehen ihrer Mitarbeitenden entscheiden, eine Art Paradebeispiel dafür, wie ein System übergriffige Verhaltensweisen begünstigen kann. Somit ist das Problem im akademischen Kontext stärker verbreitet, als in vielen anderen Kontexten.

Wohl eher bewusstes Wegschauen als blinder Fleck

Die Forschung zeigt, dass die wie auch in anderen Kontexten weit verbreitete Annahme «bei uns gibt es sowas nicht» ein Mythos ist und vor allem auf mangelhaftes Beschwerdemanagement und fehlendes Bewusstsein zurückzuführen ist.
Wir von metooscience fragen uns, wie es sein kann, dass das Wissenschaftssystem den eigenen «blinden Fleck» der Geschlechter-bezogenen Belästigung in Anbetracht seines Ausmaßes und seiner gravierenden Folgen (siehe unten) nicht ausreichend offenlegt und angeht. Wie kann es sein, dass wir immer noch überall auf Widerstand stoßen oder ein «ach echt?» als Antwort bekommen, wenn wir über Betroffene, die Häufigkeit des Auftretens und den psychischen Konsequenzen von Geschlechter-bezogener Belästigung sprechen.
Weniger als zehn Prozent der Betroffenen gehen gegen das vor, was sie erlebt haben. Der am häufigsten genannte Grund dafür ist, dass sie sogenannte «sekundäre Viktimisierung» durch ihr Umfeld befürchten. Gemeint sei damit die Angst davor, erneut zum Opfer zu werden, aufgrund des Verhaltens der Polizei, der Familie, der Freunde und sogar den Medien der betroffenen Person gegenüber. Unsere Erfahrungen bestätigen diese Befürchtungen und auch die Berichte von Betroffenen, die von ihren Erlebnissen während Verfahren an Universitäten berichten, zeugen von retraumatisierenden Erlebnissen. Betroffene berichten von psychischen Belastungen, während der Verfahren. Diese kommen auf die Belastungen durch die Belästigung noch obendrauf. Wem oder was dienen also die an Universitäten durchgeführten Verfahren? Insbesondere solche, die sich mit Fällen unterhalb des Radars des Strafrechts befassen? Jedenfalls nicht dem Schutz von Betroffenen noch der Prävention von Diskriminierung und Machtmissbrauch.

Wie wird gegen geschlechtsbezogene-Belästigung an Universitäten in Deutschland vorgegangen?

Welche Maßnahmen die Universität im Falle von Diskriminierung, Belästigung und Machtmissbrauch einleitet, hängt vom Anstellungsverhältnis, der Verbeamtung und von der „Schwere“ des Vergehens ab. Für die Einordnung der Schwere des Vergehens sind Universitäten nicht nur an geltendes Recht gebunden. Sie haben einen recht weiten autonomen Spielraum, was sie als schädigendes oder unethisches Verhalten einstufen und wie sie dagegen vorgehen. Wenn sie sich nur an den begrenzten strafrechtlichen Rahmen im Hinblick auf sexualisierte Gewalt halten, kommen die bekannten Missstände im Hinblick auf Opferschutz und Strafverfolgung bei Diskriminierung und sexualisierter Gewalt zum Tragen. Das AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz), das auf EU-Ebene gilt und Arbeitgeber*innen verpflichtet, Arbeitnehmer*innen vor sexualisierter Diskriminierung zu schützen, wird aus unserer Sicht und auch aus der Sicht von anderen Expert*innen wie Prof. Dr. Eva Kocher (Juristische Fakultät der Europaunivesität Viadrina, Frankfurt a. d. Oder) von den wenigsten Unis ausreichend umgesetzt. Der wesentliche Unterschied des AGG zum Strafrecht ist, dass die empfundene Ungleichbehandlung ausreicht, um als Diskriminierungserfahrung anerkennt zu werden. Dieser Unterschied stellt einen wesentlichen Faktor für den Schutz von Betroffenen dar.
In der Regel werden die Dokumentationen der Verfahren von den Universitäten unter Verschluss gehalten. Es bleiben Erfahrungsberichte von Betroffenen und eingebundenen Personen, um die Wirkung dieser Verfahren zu beurteilen.
In der Regel sind alle Stellen, an die sich alle an Universitäten Betroffene auf der Suche nach Unterstützung wenden können, Teil der Universitätsstruktur. Hier gibt es nur sehr wenige Ausnahmen in der deutschen Universitätslandschaft. Diese Stellen vertreten damit in erster Linie also die Interessen der Universität selbst, die in den meisten Fällen deckungsgleich mit der Handhabe im Strafrecht unter dem Grundsatz in dubio pro reo (also «Im Zweifel für den Angeklagten») eine, wenn auch statistisch höchst unwahrscheinlichen, Fehlverurteilung vermeiden sollen. Dieser Grundsatz schützt aber vor allem die Täter*innen und legt die Beweislast gänzlich auf die Schultern der Betroffenen. Dienstrechtliche Verfahren werden für die Betroffenen in der Regel intransparent gehalten, sie werden als Zeug*innen und nicht als zu Schützende behandelt. Diese Dynamik hat psychische Effekte auf die Betroffenen, die denen des Victim Blamings (Täter-Opfer-Umkehr) entsprechen und damit zu erklären sind, dass die Beweislast einer Aberkennung der erlebten Belastung entspricht. Die psychischen Schäden, die Diskriminierung, Belästigung und Missbrauch verursachen, sind nun mal nicht mit blutigen Messern und sichtbaren Wunden zu belegen.

Die Konsequenzen von psychischer Gewalt, die weder eingeordnet noch geahndet wird, sind massiv – Die Gründe sind tief in der Gesellschaft verankert.

Hier geht es um Gewalt. Gewalt, die ohne Einordnung und Abfederung schnell dazu führt, dass Betroffene nicht nur psychisch leiden, sondern sich auch aus den Systemen distanzieren und sich umorientieren, in denen sie einer solchen Gewalt ausgesetzt sind, so die Forschung. Die Frage nach Belästigung, Machtmissbrauch und Sexismus ist auch immer eine Frage von Diversität. Es sind eben die Personengruppen, die in den besagten Kontexten ohnehin unterrepräsentiert sind (zum Beispiel Frauen, queere Personen, People of Colour oder Personen mit Behinderung), die mit überdurchschnittlich hoher Wahrscheinlichkeit attackiert werden, das zeigt die Forschung. Wie sich die Interaktionen mit Beschwerdestellen gestalten, bestimmt maßgeblich das Ausmaß, in welchem sich Betroffene selbst die Schuld für das Erlebte geben, was sich wiederum auf Leistung und Motivation auswirkt. Sind solche Interaktionen von gesellschaftlichen Normen und Einstellungen geprägt, die meistens durch mangelhafte Aufklärung weiteren Schaden anrichten, können die Folgen fatal sein.

Zwar gibt es inzwischen in der sozialpsychologischen Forschung einen, sich an den psychischen Konsequenzen bemessenden, Konsens darüber, was Belästigung ist, dieser ist jedoch nicht deckungsgleich mit dem, was gesellschaftlich als Belästigung definiert wird. So sind Belästigungs-Mythen (Beispiel: «Wenn es so schlimm wäre, hätte sie doch was dagegen getan») nach wie vor weit verbreitet, obgleich nachweislich falsch. Hiermit wird suggeriert, dass nur übergriffige Verhaltensweisen als Belästigung gelten, die hinter verschlossenen Türen passieren, körperlichen Kontakt und explizit verbalisierte Erpressung beinhalten. Auch an Unis halten sie sich diese Mythen hartnäckig und formen ein sehr enges Skript von Belästigung, das die allermeisten und nachweislich schädigenden Verhaltensweisen gar nicht erst miteinschliesst.
Daher braucht es Aufklärung für alle, die an Universitäten lehren, arbeiten, forschen und lernen. Und es braucht unabhängige Beschwerdestellen, die diese Perspektive in alle Verfahren, die an Universitäten eingeleitete werden, einfließen lassen, Betroffene vertreten, beraten und unterstützen.

Es muss sich einiges ändern!

Aus unserer Sicht ist es unerlässlich, für breite gesellschaftliche Aufklärung über die psychologischen Mechanismen und gesellschaftlichen Bedingungen für Geschlechter-bezogene Diskriminierung und Gewalt zu sorgen. Bewusstsein fördert Solidarität und wirkt Machtmissbrauch und dem Effekt des Nicht-Handelns der Augenzeugen (Bystandertum) entgegen. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass zentraler Aspekt von Aufklärung Empathie für Betroffene ist und der Fokus der Debatte nicht auf die Täter*innen gelegt wird. Durch den positiven Fokus auf Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt, werden positive Anreize für alle geschaffen, die helfen eine sichere Gemeinschaft für alle zu kreieren, während ein Fokus auf Täter*innen und Maßnahmen der Strafverfolgung das «Einzelfallnarrativ», sowie Scham- und Schuldempfinden auf der Seite der Betroffenen eher schürt.
Wir fordern eine öffentliche Debatte und Aufklärung über die Missstände, die durch den «in duio pro reo» Grundsatz in Straf- und Disziplinarverfahren entstehen.
Der im AGG wegfallende Fokus auf Schuld und geltende Fokus auf Betroffenheit sollte zu breitem gesellschaftlichen Konsens werden – durch Aufklärung. Für die Aufklärung sollten insbesondere Bildungsstätten wie Universitäten Vorbild sein, nicht nur in ihrer Bildung, sondern auch in ihrem Umgang mit entsprechenden Vorfällen.
Dieses spiegelt sich bestenfalls auch in transparenten Verfahren, unabhängigen Anlaufs- und Beratungsstellen für Betroffene und verpflichtende Weiterbildungen für alle Beschäftigten und Studierenden an Universitäten wider. Außerdem müssen Beschwerdemanagement und Anlauf- und Beschwerdestellen sehr sichtbar sein, genauso wie Konsensregeln, die massiv verbreitet und unterrichtet werden. Nur so können bestehende gesellschaftliche Mythen und implizite Einstellungen zu Machtverhältnissen und -praktiken aufgebrochen und nachhaltig verändert werden. Ziel ist es, dass der öffentliche Raum sicher für alle wird.

Metooscienece – Sprachrohr und Plattform für Bertoffene
Wir sind Franziska und Victoria und haben die Plattform @metooscience ins Leben gerufen. Betroffene von sexueller Diskriminierung können über unser anonymisiertes Kontaktformular ihre Geschichten teilen. Auf Instagram stellen wir wissenschaftliche Informationen und Erkenntnisse zu dem Thema bereit und ordnen eure Erfahrungen ein. Außerdem bieten wir Awareness Workshops für Universitäten und Veranstalter in Kulturstätten an. Franziska ist Wissenschaftlerin an der Universität Bern und forscht zu den Bedingungen und Effekten von sexualisierter Gewalt und Genderdiskriminierung. Victoria hat sich nach ihrer Promotion mit einer feministischen und Trauma-sensiblen Ausrichtung als psychologische Coaching selbstständig gemacht.

Hinweis der Redaktion: Unter der Rubrik „Kommentar“ können Menschen, die sich mit dem akademischen System auseinandersetzen, einen Gastbeitrag veröffentlichen. Dies kann eine Beschreibung der eigenen Arbeit, ein Erfahrungsbericht oder ein Kommentar zu einem aktuellen Thema sein. Die Inhalte spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung von RespectScience e.V. wider.
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Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (bukof)

Die Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (bukof) ist die geschlechterpolitische Stimme im wissenschafts- und hochschulpolitischen Diskurs. In der bukof sind alle verbunden, die Struktur und Kultur von Hochschulen in Deutschland geschlechtergerecht gestalten. Als wegweisende und zukunftsorientierte Akteurin befördert sie einen Kulturwandel in der Hochschullandschaft, der geschlechter- und gesellschaftspolitisch wirkt.

Hochschulen sind Orte, von denen bedeutende gesellschaftliche Impulse ausgehen. Sie sind zugleich Spiegel der Gesellschaft und als öffentliche Institutionen verschiedenen Gesetzen verpflichtet. Die im Grundgesetz festgeschriebene Gleichstellung der Geschlechter lösen Hochschulen allerdings noch nicht ein. Von den Studienbedingungen bis zum Anteil von Professorinnen, von den Arbeitsbedingungen bis zur Zuschreibung von Care-Aufgaben existieren an allen Hochschulen große Unterschiede zwischen den Geschlechtern und ein an der binären Norm orientiertes Geschlechterverständnis. Geschlechtsbezogene Verzerrungseffekte und diskriminierende Mechanismen bis hin zur Sexualisierten Diskriminierung und Gewalt tragen dazu bei, dass diese Unterschiede fortgeschrieben werden. Hinzu kommt, dass die Gleichstellungsarbeit an den Hochschulen in Deutschland von sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen, Strukturen und Prozessen geprägt ist, die nicht überall ausreichend und verlässlich sind.

Personalpolitik für eine geschlechtergerechte Hochschulkultur

Das deutsche Wissenschaftssystem zeichnet sich im internationalen Vergleich als besonders exklusiv aus. Befristete Stellen und eine lange Phase der Qualifizierung bis zu einem gesicherten Beschäftigungsverhältnis führen häufig dazu, dass Wissenschaftlerinnen die Hochschulen vorzeitig verlassen. Geschlechtergerechte Personalentwicklung an Hochschulen bedeutet, Karrieren von Frauen in allen Bereichen der Wissenschaft, Technik und Verwaltung gezielt zu fördern und klare Akzente für die Vereinbarkeit von Familie und Karriere für alle Hochschulbeschäftigten zu setzen. Die bukof fordert Hochschulen auf, eine geschlechtergerechte Personalpolitik zu implementieren. Führungskräfte sind aufgerufen, sich für eine transparente und geschlechtergerechte Personalauswahl einzusetzen, reflektierte Personal- und Förderentscheidungen mit Bewusstsein für Bias-Effekte zu treffen und dem frühzeitigen drop out von Frauen und unterrepräsentierten Geschlechtern entgegenzuwirken.

Eindeutig queer: Geschlechtergerecht und diskriminierungskritisch

Die bukof vertritt eine geschlechtergerechte und diskriminierungskritische Gleichstellungspolitik. Geschlecht ist Teil der selbstbestimmten Identität eines Menschen. Geschlechtervielfalt ist Realität. Die gesamtgesellschaftlich gängige Einteilung in Männer und Frauen verstellt aber den Blick auf alle Lebensrealitäten, die über das binäre, heteronormativ gedachte Geschlechtermodell hinausgehen. Das führt zur strukturellen Diskriminierung von Menschen, die lesbisch, schwul oder bisexuell leben bzw. sich mit trans*, inter, queer, nicht-binär oder einer anderen Selbstbezeichnung identifizieren (lsbtiq*). Die bukof setzt sich für die Gleichstellung aller Geschlechter ein und fordert dazu auf, die binäre und biologistische Geschlechterordnung kritisch zu hinterfragen. Gegen Homo-, Trans- und Interfeindlichkeit sowie Heteronormativität bezieht die bukof aktiv Stellung.

Diversität braucht Antidiskriminierung

Geschlecht, Rassifizierung oder soziale Herkunft, körperliche Befähigung, sexuelle Identität, Religionszugehörigkeit oder Alter: Diskriminierung hat viele Dimensionen, die zusammenwirken. Diversity-Policies sind ohne Antidiskriminierung nicht denkbar. Die bukof setzt sich für eine chancengerechte Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen an der hochschulischen Bildung und Forschung ein. Es ist Aufgabe von Hochschulen, Ausgrenzung und Benachteiligung in allen ihren Dimensionen zu erkennen, zu benennen und organisationale Konsequenzen zu ziehen. Die bukof fordert, dass Hochschulen Geschlechter-, Antidiskriminierung- sund Diversitätspolitik als gleichbedeutende Handlungsfelder anerkennen und in der gesamten Organisation implementieren.

Solidarisch gegen Antifeminismus

Mit dem Erstarken rechtspopulistischer und rechtsradikaler Strömungen haben die Angriffe auf die Geschlechterpolitik und -forschung enorm zugenommen. Forscher*innen und Gleichstellungsakteur*innen werden beschimpft, bedroht und angegriffen. Rechtspopulistische Familienkonzepte gefährden die Gleichstellung und eskalierende Konfrontationen verhindern reflektierte Debatten. Die bukof fordert Solidarität und ein aktives Vorgehen gegen Antifeminismus und für eine offene, demokratische Debattenkultur. Wer Geschlechterpolitik und -forschung die Existenzberechtigung abspricht, greift die Grundwerte der Demokratie, der Wissenschaft und Kunst an.

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Von Humboldt lernen. Weshalb der Rücktritt von Sabine Kunst Schule machen sollte

Der Rücktritt von Sabine Kunst als Präsidentin der Humboldt-Universität Berlin stellt eine Art praktischen Kommentar zum neuen Berliner Hochschulgesetz (BerlHG) dar. Das bundesweit erste Gesetz, das die miserable Beschäftigungslage des nichtprofessoralen wissenschaftlichen Personals ernsthaft zu verbessern verspricht, qualifiziert die Ex-Präsidenten in ihrer begleitenden, rasch verbreiteten Stellungnahme als „gut gemeint, aber schlecht gemacht“ ab. Der Schritt von Kunst ist bereits breit kommentiert worden. Professor*innen der HU, weitere Hochschulleitungen und der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Peter-André Alt sprechen ihr Bedauern aus und stimmen ihr zu: Die „langfristige Ausgestaltung wissenschaftlicher Karrierewege“ sei eine „strukturelle Herausforderung für das Hochschulsystem“, die sich „nicht durch kurzfristige, unzureichend ausgeformte gesetzliche Neuerungen […] wegregulieren“ lasse (Alt, Kommentar im Zeit-Chancen Newsletter vom 28.10.2021). An der HU und bei ihren Berliner Partner-Universitäten ist man zudem tief besorgt, dass die erst kürzlich offiziell bestätigte und mit viel Fördergeld versehene „exzellente Weiterentwicklung“ des Standorts (Kunst) gefährdet sein könnte.  Nur der Referent*innenrat der HU-Studierenden sieht die Lage anders. Er begrüßt die Berliner Gesetzesnovelle als „wichtige[n] Schritt zur Entprekarisierung des akademischen Mittelbaus“ und hält angesichts seiner Konfliktgeschichte mit der Präsidentin fest: „Wir wünschten, wir könnten uns für die gute Zusammenarbeit bedanken, nur gibt es da leider nichts, wofür wir uns bedanken könnten.“ Das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft ist Frau Kunst in jedem Fall dafür dankbar, dass sie neuen, reformbereiteren Kräften in der Hochschulleitung Platz macht. Ihre Argumente und die ihrer Unterstützerschaft sollten allerdings so nicht stehen bleiben.

Die Exzellenzstrategie ist Teil des Problems und nicht Teil irgendeiner Lösung

Die Exzellenzstrategie des Bundes, die bei Frau Kunst als unhinterfragtes Hauptziel gilt – sie erwähnt sie mehrfach und noch vor den „schwierigen Karrierewegen“ – ist eher Teil der Strukturprobleme im deutschen Hochschulsystem, weil sie dem überhitzten Projektwettbewerb eine Art erste Liga gegeben hat. Auch lokal ist sie keine wirkliche Lösung. Die massive finanzielle Förderung, die den Berliner Universitäten nach ihren Erfolgen in der Exzellenzstrategie zukommt, steht ja offenbar nicht für den Ausbau dauerhafter Stellen zur Verfügung, wird also nicht einmal an der vermuteten Spitze zu Verbesserungen beitragen. An anderen Standorten ziehen die Exzellenzbemühungen ebenfalls Probleme nach sich. So bleibt an der Goethe-Universität Frankfurt, nachdem ihr Exzellenzerfolg 2019 geringer ausfiel als geplant (die Präsidentin wechselt gegenwärtig nach Wuppertal), als Effekt nun ein Überhang von Mittelbaustellen ohne Zukunft sowie einige Professuren für Fachgebiete, die man ohne den Exzellenzwettbewerb gar nicht kennen würde.

Das neue BerlHG: Ein wichtiger Schritt von vielen, die noch gegangen werden müssen

Das neue BerlHG, dem Frau Kunst schlechte Presse verschafft, gibt dagegen Anlass zu Hoffnung. Das gilt besonders für den Punkt, an dem die Berliner (Ex-)Hochschulleitungen Anstoß nehmen. Die Regelung, dass PostDocs nur noch mit Entfristungsperspektive eingestellt werden können, ist kein bedauerlicher Fehler, sondern ein großer Schritt in die richtige Richtung (vgl. unsere Stellungnahme vom 9.9.2021). Nachdem über viele Jahre Verbesserungen in der akademischen Beschäftigungsstruktur unmöglich schienen, weil die Verantwortung zwischen den Hochschulleitungen, Ländern und Bund hin- und hergeschoben wurde, trifft nun ein Land endlich eine Entscheidung und setzt die Hochschulen in Zugzwang. Sie müssen mit dem strukturellen Umbau beginnen und zugleich von Bund und Ländern Mittel dafür einfordern. Beides, der Strukturwandel und seine Finanzierung, ist wichtig und wünschenswert. Der Bund muss, nachdem er mit dem Zukunftsvertrag Lehre stark in die Hochschulfinanzierung eingestiegen ist, jetzt auch ein nachhaltiges Beschäftigungssystem mitgestalten. Die Länder können sich nun nicht mehr mit ihren tatsächlich engen finanziellen Spielräumen entschuldigen. Wenn beide sich wieder von Projekt- auf Grundfinanzierung umorientieren, bleibt der nötige Mittelaufwuchs sogar überschaubar.

Zugleich sollten weitere Länder dem Vorbild Berlins folgen und Anreize für eine personelle Erneuerung der Hochschulleitungen setzen. Die Hochschulen werden im Strudel der anstehenden Veränderungen auch Reform- und Identitätsarbeit nach innen leisten müssen: Sie müssen die Privilegien der mutmaßlich ‚exzellenten‘ Professor:innen abbauen und für ein gleichberechtigtes Miteinander aller wissenschaftlichen Beschäftigten sorgen. So lässt sich nicht nur eine dringend nötige Demokratisierung erreichen, sondern auch Raum für Kooperationen und Erkenntnisse schaffen, an denen alle klugen Köpfe einer Hochschule beteiligt sind.

Für einen solchen Wandel ist mehr als ein Rücktritt nötig – zumal ja nicht sicher ist, dass unmittelbar reformfähige Führungskräfte nachkommen. Nachdem sich vielleicht nicht zufällig eine weibliche Führungsperson konsequent die Verantwortungsfrage gestellt hat, wäre ähnliche Konsequenz auch von ihren männlichen Kollegen zu wünschen. Wenn sie nicht bereit oder fähig sind, den Umgang der deutschen Hochschulen mit ihrem nichtprofessoralen Personal strukturell zu verbessern, sollten sie ihren Platz für andere freimachen, denen das besser gelingt. Sie werden dadurch in der Regel nicht in berufliche Existenznot geraten.

Die Autor:innen
Das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) ist ein offener, überregionaler Zusammenschluss von Mittelbauinitiativen und Einzelpersonen aus dem akademischen Mittelbau. Wir setzen uns für Gute Arbeit in der Wissenschaft für all ihre Angehörigen  und die umfassende Demokratisierung von Hochschule und Forschung ein. Wir verstehen uns zugleich als Interessensvertretung und Stimme des Mittelbaus.

Quelle: Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft | Von Humboldt lernen. Weshalb der Rücktritt von Sabine Kunst Schule machen sollte (mittelbau.net)

Hinweis der Redaktion: Unter der Rubrik „Kommentar“ können Menschen, die sich mit dem akademischen System auseinandersetzen, einen Gastbeitrag veröffentlichen. Dies kann eine Beschreibung der eigenen Arbeit, ein Erfahrungsbericht oder ein Kommentar zu einem aktuellen Thema sein. Die Inhalte spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung von RespectScience e.V. wider.
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Das Dilemma der notwendigen und hinreichenden Bedingung

Von Dr. Charlotte Förster

2019 stand ich am Tiefpunkt meiner bisherigen Karriere. Nachdem ich drei Jahre erfolgreich auf einer für zweieinhalb Jahre befristeten 50-Prozent-Stelle promoviert hatte, suchte ich nun eine Stelle als Nachwuchswissenschaftlerin. In meinem Bewerbungsprozess sah ich mich schnell mit zwei Problemen konfrontiert: meine relativ kurze Promotionszeit und das Problem der internen Stellenvergabe beziehungsweise der Ausschreibungspflicht.

Das erste Problem bezieht sich auf das Publizieren. Um in der Wissenschaft erfolgreich zu sein, braucht es insbesondere zweierlei und davon besonders viel: Publikationen und eingeworbene Drittmittel. Um hochrangige  Publikationen zu erzielen, muss man durch ein sogenanntes doppelt verblindetes Peer Review Verfahren. Dieses Verfahren hat natürlich seine Berechtigung, braucht allerdings vor allem eines: Zeit. Da das Verfahren auf einer freiwilligen Kooperation beruht, müssen für jeden Begutachtungsprozess zwei oder drei fachverwandte Kolleg*innen gefunden werden, die sich die Zeit für eine solche Begutachtung nehmen und ein entsprechendes Gutachten schreiben. Insbesondere inmitten der Pandemie ist diese Bereitschaft verständlicherweise deutlich zurückgegangen, was die teilweise schon vor der Pandemie sehr langen Review Prozesse von mehr als einem halben Jahr pro Runde zusätzlich verlangsamt hat. Für (Nachwuchs-)wissenschaftler*innen und die, die es noch werden wollen, hat das allerdings durchaus schwerwiegende Konsequenzen, da eine Bewerbung ohne gute Publikationen besonders schwierig ist. Eine mittel rangige Publikation kann durchaus drei bis vier Jahre in Anspruch nehmen, bevor sie veröffentlicht wird. Eine hochrangige Publikation sogar deutlich länger. Für Nachwuchswissenschaftler*innen wie mich, die aufgrund der Stellenbefristung relativ schnell promoviert haben, ist dies ein echtes Problem.

Das zweite Problem, mit dem ich mich in meinem Bewerbungsprozess konfrontiert sah, ist das System der Stellenvergabe. Alle Stellen und Förderungen müssen öffentlich ausgeschrieben werden. Dies betrifft auch Stellen, die bereits intern vergeben wurden. Im Prinzip ist es auch verständlich, dass Stellen wie beispielsweise Postdoc-Stellen, die ein hohes Vertrauensverhältnis voraussetzen, auch intern vergeben werden können – die Wirtschaft tut dies schließlich auch. Die interne Stellenvergabe bei gleichzeitiger Ausschreibungspflicht führt allerdings zu einem erheblichen Mehraufwand für alle Beteiligten und besonders auf Seiten der Bewerber*innen.

Letztendlich hatte ich in meiner bisherigen wissenschaftlichen Karriere vier primäre Jobs. Ich war dreimal wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die erste Stelle war zu 50 Prozent vergütet und auf zweieinhalb Jahre befristet, die zweite zu 75 Prozent vergütet und auf 7 Monate befristet. Die dritte Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin, ohne Lehrverpflichtung und selbst eingeworben, war auf ein Jahr befristet. Wenn die Pandemie und der damit einhergehende Lockdown nicht gekommen wären, hätte ich für diese Stelle sogar ins Ausland ziehen müssen. Am Peak meiner Frustration während des Bewerbungsmarathons wendete ich mich an Die Zeit und schilderte meine Geschichte. Da die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft, insbesondere in Bezug auf das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), seit Jahren ein großes Problem sind, schlug ich vor, der Thematik einen Artikel zu widmen. Die Zeit hatte nach eingehender Beratung allerdings kein Interesse an diesem Thema. Mein Bewerbungsmarathon endete dann fürs Erste mit einer Stelle als Juniorprofessorin und ging somit für mich vergleichsweise gut aus. Die Alternative, in die Wirtschaft zu gehen, ist leider auch eher theoretischer Natur. Denn mit 30 Jahren, weiblich, Doktorin und kinderfrei ist man für die Wirtschaft vor allem eins: überqualifiziert und dazu noch ein enormes Risiko.

Mit Beginn meiner Position als Juniorprofessorin intensivierte sich dann auch zunehmend das Dilemma der notwendigen und hinreichenden Bedingung. Neben des bereits erwähnten, und in Anbetracht einer möglichen zukünftigen Stelle besonders hohem Publikationsdrucks, haben (Junior-)Professor*innen natürlich auch ihre regulären Verpflichtungen, bestehend aus Lehre, Gremienarbeit und Verwaltung. Da Juniorprofessor*innen nicht die Möglichkeit eines Forschungssemesters haben und auch allgemein weniger Unterstützung in verwaltungstechnischen Fragen bekommen, bleiben für die Forschung (trotz reduziertem Lehrdeputat) nur die Wochenenden sowie natürlich die vorlesungsfreie Zeit. Das schlägt langfristig auf die Gesundheit, da für Entspannung an den Wochenenden oder im Urlaub eigentlich kaum Zeit bleibt. Lösen lässt sich das Problem allerdings nur bedingt, da Lehre und Verwaltung ein fester und sehr zeitintensiver Bestandteil sind (hinreichende Bedingung), wohingegen Forschung und Drittmittel unsere Eintrittskarte in die unbefristete Vollprofessur sind (notwendige Bedingung). Wenn wir also auf unsere Gesundheit und Work-Life-Balance achten, müssen wir notgedrungen die Forschung und das Schreiben von Drittmittelanträgen vernachlässigen – und schmälern somit unsere Chancen für die Vollprofessur erheblich. Die Universität hingegen muss in diesem Szenario Kandidat*innen wählen, welche objektiv gesehen die meisten Publikationen und Drittmittel eingeworben haben und somit auch die Kandidat*innen, die gegebenenfalls weniger auf die Work-Life-Balance und damit die Gesundheit achten. Aus meiner Perspektive ist dies eines der zentralen Probleme des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Zuzüglich hierzu arbeiten (Nachwuchs-)wissenschaftler*innen in einem Umfeld, das von Weber sehr treffend als das stahlharte Gehäuse der Bürokratie bezeichnet wurde: die Verwaltung. Um hochrangig publizieren zu können, müssen wir nicht nur die Literatur gut kennen und einfallsreiche Ideen haben, sondern auch methodisch fit und gut vernetzt sein. Wir müssen reisen, um an Methodenkursen teilnehmen zu können, unsere Forschungsergebnisse vorzustellen und diskutieren zu können sowie neue Kontakte zu knüpfen. Unsere Community ist nicht sonderlich groß, aber international weit gestreut, sodass Reisen ein wesentlicher Bestandteil ist, um ein internationales Forschungsnetzwerk aufzubauen. Grundlage jeder Dienstreise sind die jeweils herrschenden gesetzlichen und universitären Bedingungen. In Sachsen bildet diese Grundlage das sächsische Reisekostengesetzt . Die Dienstreisekostenabrechnung ist einer der kompliziertesten Verwaltungsaufgaben und endet häufig mit einem gewissen Betrag, der mit Berufung auf das oben erwähnte Gesetz nicht übernommen werden kann. Dementsprechend müssen die Kosten dann privat getragen werden. Da wir aber auf einen internationalen Austausch angewiesen sind, konfrontiert uns diese häufig nicht vollständige Kostenübernahme wiederum mit einem neuen Dilemma. Zur Veranschaulichung: Bei meiner letzten Dienstreise in die USA wurde ein beträchtlicher Anteil der Kosten in Höhe von circa 600 Euro nicht übernommen. Die Differenz begründete sich insbesondere darin, dass mir beim Hotelvergleich ein kleiner Fehler unterlaufen war und die eigentlich zugrunde liegende Referenztabelle seit 2017 nicht mehr aktualisiert wurde . Fehler seitens der Verwaltung werden hingegen deutlich weniger streng gehandelt, auch wenn diese zu einem nicht unerheblichen Mehraufwand für uns (Nachwuchs-)wissenschaftler*innen führen. Dieser Mehraufwand führt wiederum zu weniger Zeit für die Forschung. Um das Forschungspensum und dementsprechend auch unserer Publikationspensum dennoch zu schaffen, bleiben folglich wieder nur die Wochenenden und der Urlaub. Dies wirkt sich negativ auf die Work-Life-Balance und damit die Gesundheit aus. Dass Juniorprofessor*innen zunächst nicht berücksichtigt wurden, als alle anderen befristeten Stellen bedingt durch die Corona-Pandie um ein halbes Jahr bis Jahr verlängert wurden,  spiegelt den Stellenwert von Juniorprofessor*innen im akademischen System wider. Auch wenn dies nun korrigiert wurde – ein Jahr nach der Antragstellung auf Gleichstellung –  betrifft die Gleichstellung  nur Verträge, die vor dem 31.03.2021 geschlossen wurden. Personen wie ich, die beispielsweise im April 2021 und unter strengsten COVID-19-Maßnahmen ihre Stelle angetreten haben, betrifft dies nicht. Eine inhaltliche Erläuterung des Stichtages bleibt wie so häufig im akademischen System aus.

Anmerkung der Autorin: Es handelt sich hierbei um einen individuellen Erfahrungsbericht. In Disziplinen außerhalb der Wirtschaftswissenschaften und in anderen Ländern, gegebenenfalls sogar in anderen Bundesländern oder bei privaten Hochschulen, mag es eventuell ganz andere Probleme geben.

Autorin
Dr. Charlotte Förster ist Juniorprofessorin für Europäisches Management an der Technischen Universität Chemnitz. Promoviert hat Charlotte Förster an der Technischen Universität Dresden zum Thema Resilienz von Führungskräften. Derzeit erforscht sie die Resilienz von Krankenhäusern und ihren Mitarbeitenden, um auf diese Weise wichtige Implikationen für ein zukünftiges Krisen- und Pandemiemanagement im Gesundheitssektor abzuleiten.

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Dauerstellen für Daueraufgaben, Mindestlaufzeiten für Zeitverträge!

Hintergrundinformation: Seit das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) am 12. April 2007 erlassen wurde, nimmt die Anzahl der Kritiker:innen stetig zu. Denn die dadurch resultierenden befristeten Verträge für wissenschaftliches Personal führen zu erschwerten Bedingungen im wissenschaftlichen Betrieb. Im Rahmen der Novellierung des WissZeitVG im Jahre 2016 wurde in § 8 festgelegt, „die Auswirkungen dieses Gesetzes im Jahr 2020 zu evaluieren“ . Zwei Jahre hat die Evaluierung gedauert und im Kommentar bezieht Andreas Keller von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Stellung zu den Ergebnissen, die am 20. Mai 2022 veröffentlicht wurden.

Acht-Punkte-Programm der GEW für Reform des Befristungsrechts in der Wissenschaft

von Andreas Keller

Viel zu viele Zeitverträge mit viel zu kurzen Laufzeiten – die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) von 2016 war zwar gut gemeint, ist aber so gut wie wirkungslos. Das hat die Evaluation der Auswirkungen der Novelle ergeben, die die Forschungsinstitute INTERVAL und HIS-HE im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführt und am 20. Mai 2022 veröffentlicht haben .
Der Anteil der befristet beschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen
ist mit 84 Prozent an den Universitäten und 78 Prozent an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) so hoch wie vor Inkrafttreten der Novelle, heißt es im Evaluationsbericht. Die Geltungsdauer der Zeitverträge fielen nach einem vorübergehenden Anstieg wieder auf das Niveau vor 2017 zurück. An den Universitäten liegt die durchschnittliche Vertragslaufzeit bei 18 Monaten, an den HAW bei 15 Monaten. 2020 hatten an den Universitäten 42 Prozent, an Hochschulen für angewandte Wissenschaften 45 Prozent der befristeten Arbeitsverträge eine Laufzeit von unter einem Jahr.

Die wesentlichen Ziele der WissZeitVG-Novelle wurden verfehlt: Sie hat weder unsachgemäße Befristung noch Kurzzeitbefristungen eingedämmt. Jetzt gibt es für die Bundesministerin für Bildung und Forschung Bettina Stark-Watzinger (FDP) keine Ausrede mehr, die von ihrer Vorgängerin Anja Karliczek (CDU) verschleppte überfällige Reform des Gesetzes anzupacken. Wir brauchen eine radikale Reform des Befristungsrechts in der Wissenschaft, die Dauerstellen für Daueraufgaben, Mindestlaufzeiten für Zeitverträge und einen verbindlichen Nachteilsausgleich durchsetzt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat daher im Rahmen ihrer Konferenz „Schluss mit hire and fire! Das WisszeitVG auf dem Prüfstand“ am 3. Juni 2022 in Berlin ein Acht-Punkte-Programm für ein „Wissenschaftsentfristungsgesetz“ vorgelegt, welches das WissZeitVG ablösen soll.

Die Gesetzesevaluation hat offengelegt, dass die Wissenschaftsarbeitgeber praktisch jede wissenschaftliche Tätigkeit als „Qualifizierung“ ansehen. Denn das geltende WissZeitVG erlaubt Zeitverträge, sofern diese die wissenschaftliche Qualifizierung fördern. Das hat zur Folge, dass einer willkürlichen Befristungspraxis Tür und Tor geöffnet wird. Dem muss der Gesetzgeber einen Riegel vorschieben. Er muss klipp und klar regeln, dass Befristungen nur dann zulässig sind, wenn sie eine präzise im Gesetz definierte wissenschaftliche Qualifizierung wie die Promotion fördern.
Verbindliche Mindestvertragslaufzeiten müssen sicherstellen, dass die Qualifizierung tatsächlich erfolgreich abgeschlossen werden kann. Die GEW plädiert für eine Orientierung an der bisherigen Höchstbefristungsdauer von sechs Jahren (Regellaufzeit). Zusätzlich sollten vier Jahre nicht unterschritten werden dürfen (Mindestlaufzeit). Nach der Promotion sollte eine Befristung allenfalls in Verbindung mit einem Tenure Track oder einer Anschlusszusage nach dem Vorbild des Berliner Hochschulgesetzes gerechtfertigt sein, also wenn das Beschäftigungsverhältnis mit Erreichen des Qualifizierungsziels entfristet wird.

Weiter muss der Gesetzgeber gleiche Chancen für alle Wissenschaftlerinnen durchsetzen. Für befristet Beschäftigte, die Kinder betreuen, pandemiebedingte Beeinträchtigungen erlebt haben oder eine Behinderung oder chronische Erkrankung haben, muss es im Sinne eines Nachteilsausgleichs einen verbindlichen Anspruch auf Vertragsverlängerung geben. Eine weitere Forderung der GEW ist die ersatzlose Streichung der Tarifsperre aus dem Gesetz. Es ist absurd, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften keine sachgerechten Befristungsregelungen für Wissenschaftlerinnen aushandeln dürfen. Geben Sie Tariffreiheit, Frau Ministerin!

Schließlich setzt sich die GEW für die Absicherung und Gleichstellung von Drittmittelbeschäftigten, für die Herausnahme von Lehrkräften und Wissenschaftsmanager*innen aus dem Geltungsbereich des Gesetzes sowie für die Aufhebung der Höchstbefristungsdauer für studentische Beschäftigte und stattdessen die Verankerung einer Mindestlaufzeit im neuen „Wissenschaftsentfristungsgesetz“ ein.

Das Acht-Punkte-Programm im Wortlaut.
Bericht und Videoaufzeichnung von der Konferenz am 3. Juni.

Autor
Dr. Andreas Keller ist stellvertretender Vorsitzender und Vorstandsmitglied für Hochschule und Forschung der GEW

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Bild: RespectScience

RespectScience e. V. besteht aus einem interdisziplinären Team aus Studierenden und Promovierenden und versteht sich als aktiver Teil des Wissenschaftssystems auf verschiedenen Ebenen. Sie haben bereits Berührungspunkte mit den unterschiedlichen Kernproblemen jenes Systems gehabt und die vorherrschende hohe Arbeitsbelastung erfahren. Ungerade Bildungswege, Bildungsungerechtigkeit, Benachteiligung aufgrund von Herkunft und Geschlecht – das alles umfasst RespectScience persönlichen Erfahrungshorizont. Der Verein hat durch seine Interdisziplinarität Einblicke in verschiedene innere fachspezifische Spannungsfelder, jedoch kann er nicht alle Fachbereiche aus seinem direkten Erfahrungsschatz abdecken. Dies umfasst beispielsweise die Hürden des Systems für Menschen mit Behinderung, Studierende und Beschäftigte mit großen familiären Verantwortungen und die Langzeitarbeitsbelastung im System. Deshalb erweitert RespectScience seinen Wissenstand immer wieder durch externe Erfahrungsberichte und die Beratung von Expert:innen.

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