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Kommentar

Geschlechter-bezogene Belästigung an Unis  – «wie heftig kann es eigentlich unter dem Deckmantel abgehen?»

Der aktuellen UNI-SAFE-Umfrage zufolge erleben 60 Prozent der Beschäftigten und Studierenden an deutschen Universitäten geschlechterspezifische Belästigung. Ein Blick auf die statistischen Wahrscheinlichkeitsfaktoren von Belästigung zeigt, dass die Zahlen im Hochschulkontext nicht zufällig so hoch liegen. Denn die Hochschule ist ein System mit strengen Hierarchien, indem die Menschen im ständigen Wettbewerb zueinander stehen und unausgeglichene Geschlechterverhältnisse herrschen. Diese genannten Punkte, stehen im Zusammenhang mit der Auftretenswahrscheinlichkeit von Belästigung, so die Forschung. Demzufolge ist das Wissenschaftssystem mit seinen kurzen Vertragslaufzeiten, seinen starren Hierarchien und seiner Obacht vor (meist männlichen) Koryphäen, die auf der Basis ihrer Publikationen nahezu göttergleich über Karrieren und Ansehen ihrer Mitarbeitenden entscheiden, eine Art Paradebeispiel dafür, wie ein System übergriffige Verhaltensweisen begünstigen kann. Somit ist das Problem im akademischen Kontext stärker verbreitet, als in vielen anderen Kontexten.

Wohl eher bewusstes Wegschauen als blinder Fleck

Die Forschung zeigt, dass die wie auch in anderen Kontexten weit verbreitete Annahme «bei uns gibt es sowas nicht» ein Mythos ist und vor allem auf mangelhaftes Beschwerdemanagement und fehlendes Bewusstsein zurückzuführen ist.
Wir von metooscience fragen uns, wie es sein kann, dass das Wissenschaftssystem den eigenen «blinden Fleck» der Geschlechter-bezogenen Belästigung in Anbetracht seines Ausmaßes und seiner gravierenden Folgen (siehe unten) nicht ausreichend offenlegt und angeht. Wie kann es sein, dass wir immer noch überall auf Widerstand stoßen oder ein «ach echt?» als Antwort bekommen, wenn wir über Betroffene, die Häufigkeit des Auftretens und den psychischen Konsequenzen von Geschlechter-bezogener Belästigung sprechen.
Weniger als zehn Prozent der Betroffenen gehen gegen das vor, was sie erlebt haben. Der am häufigsten genannte Grund dafür ist, dass sie sogenannte «sekundäre Viktimisierung» durch ihr Umfeld befürchten. Gemeint sei damit die Angst davor, erneut zum Opfer zu werden, aufgrund des Verhaltens der Polizei, der Familie, der Freunde und sogar den Medien der betroffenen Person gegenüber. Unsere Erfahrungen bestätigen diese Befürchtungen und auch die Berichte von Betroffenen, die von ihren Erlebnissen während Verfahren an Universitäten berichten, zeugen von retraumatisierenden Erlebnissen. Betroffene berichten von psychischen Belastungen, während der Verfahren. Diese kommen auf die Belastungen durch die Belästigung noch obendrauf. Wem oder was dienen also die an Universitäten durchgeführten Verfahren? Insbesondere solche, die sich mit Fällen unterhalb des Radars des Strafrechts befassen? Jedenfalls nicht dem Schutz von Betroffenen noch der Prävention von Diskriminierung und Machtmissbrauch.

Wie wird gegen geschlechtsbezogene-Belästigung an Universitäten in Deutschland vorgegangen?

Welche Maßnahmen die Universität im Falle von Diskriminierung, Belästigung und Machtmissbrauch einleitet, hängt vom Anstellungsverhältnis, der Verbeamtung und von der „Schwere“ des Vergehens ab. Für die Einordnung der Schwere des Vergehens sind Universitäten nicht nur an geltendes Recht gebunden. Sie haben einen recht weiten autonomen Spielraum, was sie als schädigendes oder unethisches Verhalten einstufen und wie sie dagegen vorgehen. Wenn sie sich nur an den begrenzten strafrechtlichen Rahmen im Hinblick auf sexualisierte Gewalt halten, kommen die bekannten Missstände im Hinblick auf Opferschutz und Strafverfolgung bei Diskriminierung und sexualisierter Gewalt zum Tragen. Das AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz), das auf EU-Ebene gilt und Arbeitgeber*innen verpflichtet, Arbeitnehmer*innen vor sexualisierter Diskriminierung zu schützen, wird aus unserer Sicht und auch aus der Sicht von anderen Expert*innen wie Prof. Dr. Eva Kocher (Juristische Fakultät der Europaunivesität Viadrina, Frankfurt a. d. Oder) von den wenigsten Unis ausreichend umgesetzt. Der wesentliche Unterschied des AGG zum Strafrecht ist, dass die empfundene Ungleichbehandlung ausreicht, um als Diskriminierungserfahrung anerkennt zu werden. Dieser Unterschied stellt einen wesentlichen Faktor für den Schutz von Betroffenen dar.
In der Regel werden die Dokumentationen der Verfahren von den Universitäten unter Verschluss gehalten. Es bleiben Erfahrungsberichte von Betroffenen und eingebundenen Personen, um die Wirkung dieser Verfahren zu beurteilen.
In der Regel sind alle Stellen, an die sich alle an Universitäten Betroffene auf der Suche nach Unterstützung wenden können, Teil der Universitätsstruktur. Hier gibt es nur sehr wenige Ausnahmen in der deutschen Universitätslandschaft. Diese Stellen vertreten damit in erster Linie also die Interessen der Universität selbst, die in den meisten Fällen deckungsgleich mit der Handhabe im Strafrecht unter dem Grundsatz in dubio pro reo (also «Im Zweifel für den Angeklagten») eine, wenn auch statistisch höchst unwahrscheinlichen, Fehlverurteilung vermeiden sollen. Dieser Grundsatz schützt aber vor allem die Täter*innen und legt die Beweislast gänzlich auf die Schultern der Betroffenen. Dienstrechtliche Verfahren werden für die Betroffenen in der Regel intransparent gehalten, sie werden als Zeug*innen und nicht als zu Schützende behandelt. Diese Dynamik hat psychische Effekte auf die Betroffenen, die denen des Victim Blamings (Täter-Opfer-Umkehr) entsprechen und damit zu erklären sind, dass die Beweislast einer Aberkennung der erlebten Belastung entspricht. Die psychischen Schäden, die Diskriminierung, Belästigung und Missbrauch verursachen, sind nun mal nicht mit blutigen Messern und sichtbaren Wunden zu belegen.

Die Konsequenzen von psychischer Gewalt, die weder eingeordnet noch geahndet wird, sind massiv – Die Gründe sind tief in der Gesellschaft verankert.

Hier geht es um Gewalt. Gewalt, die ohne Einordnung und Abfederung schnell dazu führt, dass Betroffene nicht nur psychisch leiden, sondern sich auch aus den Systemen distanzieren und sich umorientieren, in denen sie einer solchen Gewalt ausgesetzt sind, so die Forschung. Die Frage nach Belästigung, Machtmissbrauch und Sexismus ist auch immer eine Frage von Diversität. Es sind eben die Personengruppen, die in den besagten Kontexten ohnehin unterrepräsentiert sind (zum Beispiel Frauen, queere Personen, People of Colour oder Personen mit Behinderung), die mit überdurchschnittlich hoher Wahrscheinlichkeit attackiert werden, das zeigt die Forschung. Wie sich die Interaktionen mit Beschwerdestellen gestalten, bestimmt maßgeblich das Ausmaß, in welchem sich Betroffene selbst die Schuld für das Erlebte geben, was sich wiederum auf Leistung und Motivation auswirkt. Sind solche Interaktionen von gesellschaftlichen Normen und Einstellungen geprägt, die meistens durch mangelhafte Aufklärung weiteren Schaden anrichten, können die Folgen fatal sein.

Zwar gibt es inzwischen in der sozialpsychologischen Forschung einen, sich an den psychischen Konsequenzen bemessenden, Konsens darüber, was Belästigung ist, dieser ist jedoch nicht deckungsgleich mit dem, was gesellschaftlich als Belästigung definiert wird. So sind Belästigungs-Mythen (Beispiel: «Wenn es so schlimm wäre, hätte sie doch was dagegen getan») nach wie vor weit verbreitet, obgleich nachweislich falsch. Hiermit wird suggeriert, dass nur übergriffige Verhaltensweisen als Belästigung gelten, die hinter verschlossenen Türen passieren, körperlichen Kontakt und explizit verbalisierte Erpressung beinhalten. Auch an Unis halten sie sich diese Mythen hartnäckig und formen ein sehr enges Skript von Belästigung, das die allermeisten und nachweislich schädigenden Verhaltensweisen gar nicht erst miteinschliesst.
Daher braucht es Aufklärung für alle, die an Universitäten lehren, arbeiten, forschen und lernen. Und es braucht unabhängige Beschwerdestellen, die diese Perspektive in alle Verfahren, die an Universitäten eingeleitete werden, einfließen lassen, Betroffene vertreten, beraten und unterstützen.

Es muss sich einiges ändern!

Aus unserer Sicht ist es unerlässlich, für breite gesellschaftliche Aufklärung über die psychologischen Mechanismen und gesellschaftlichen Bedingungen für Geschlechter-bezogene Diskriminierung und Gewalt zu sorgen. Bewusstsein fördert Solidarität und wirkt Machtmissbrauch und dem Effekt des Nicht-Handelns der Augenzeugen (Bystandertum) entgegen. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass zentraler Aspekt von Aufklärung Empathie für Betroffene ist und der Fokus der Debatte nicht auf die Täter*innen gelegt wird. Durch den positiven Fokus auf Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt, werden positive Anreize für alle geschaffen, die helfen eine sichere Gemeinschaft für alle zu kreieren, während ein Fokus auf Täter*innen und Maßnahmen der Strafverfolgung das «Einzelfallnarrativ», sowie Scham- und Schuldempfinden auf der Seite der Betroffenen eher schürt.
Wir fordern eine öffentliche Debatte und Aufklärung über die Missstände, die durch den «in duio pro reo» Grundsatz in Straf- und Disziplinarverfahren entstehen.
Der im AGG wegfallende Fokus auf Schuld und geltende Fokus auf Betroffenheit sollte zu breitem gesellschaftlichen Konsens werden – durch Aufklärung. Für die Aufklärung sollten insbesondere Bildungsstätten wie Universitäten Vorbild sein, nicht nur in ihrer Bildung, sondern auch in ihrem Umgang mit entsprechenden Vorfällen.
Dieses spiegelt sich bestenfalls auch in transparenten Verfahren, unabhängigen Anlaufs- und Beratungsstellen für Betroffene und verpflichtende Weiterbildungen für alle Beschäftigten und Studierenden an Universitäten wider. Außerdem müssen Beschwerdemanagement und Anlauf- und Beschwerdestellen sehr sichtbar sein, genauso wie Konsensregeln, die massiv verbreitet und unterrichtet werden. Nur so können bestehende gesellschaftliche Mythen und implizite Einstellungen zu Machtverhältnissen und -praktiken aufgebrochen und nachhaltig verändert werden. Ziel ist es, dass der öffentliche Raum sicher für alle wird.

Metooscienece – Sprachrohr und Plattform für Bertoffene
Wir sind Franziska und Victoria und haben die Plattform @metooscience ins Leben gerufen. Betroffene von sexueller Diskriminierung können über unser anonymisiertes Kontaktformular ihre Geschichten teilen. Auf Instagram stellen wir wissenschaftliche Informationen und Erkenntnisse zu dem Thema bereit und ordnen eure Erfahrungen ein. Außerdem bieten wir Awareness Workshops für Universitäten und Veranstalter in Kulturstätten an. Franziska ist Wissenschaftlerin an der Universität Bern und forscht zu den Bedingungen und Effekten von sexualisierter Gewalt und Genderdiskriminierung. Victoria hat sich nach ihrer Promotion mit einer feministischen und Trauma-sensiblen Ausrichtung als psychologische Coaching selbstständig gemacht.

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