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Kommentar

Ein Plädoyer für mehr Faktenbasis in der Gesellschaft – und einen vernünftigen Umgang untereinander

Fahren wir durch unsere Bundesrepublik, so lassen sich in vielen Orten Protestplakate gegen geplante Windkraftanlagen (WKA) erkennen. Geht man online, so erfährt man auch hier in den Kommentarspalten massiven Gegenwind. Man unterstellt ihnen, dass sie Dürren fördern und die Umwelt zerstören. Verwiesen wird hierbei auf eine Studie aus China oder eine Harvard-Studie. Dabei werden allerdings die Aussagen aus den Studien nur teilweise korrekt wiedergegeben. Wird ein neuer Windpark in Angriff genommen oder auch nur eine einzige WKA, schon bilden sich Bürgerinitiativen, die gegen diesen Bau sind. Dies führt teilweise dazu, dass die Befürworter bis an die Grenzen zur Strafbarkeit angegangen werden. Im sächsischen Schönfels traut sich der Ortsvorsteher, Falk Müller, nicht mehr bei den nächsten Gemeinderatswahlen zu kandidieren. In bestimmten politischen Kreisen zeigt man für den Ärger der Bürger*innen Verständnis und unterstützt die Gegner*innen von WKA, anstatt die Sachlage wissenschaftlich zu beleuchten.

Dies geschieht auch bei anderen Themen, deren Gemüter viele Menschen erhitzen. Hier sei auf die Corona-Pandemie erinnert, wo zum Beispiel Prof. Dr. Christian Drosten Beleidigungen oder gar Verleumdungen erfuhr. Die BILD titulierte die drei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Viola Priesemann, Michael Meyer-Hermann und Dirk Brockmann als „Lockdown-Macher“ und suggerierte damit, dass die Wissenschaft für Lockdown-Entscheidungen in der Politik verantwortlich sei. Aber deren Expertise beruht dabei nur auf aktuellen Ergebnissen ihrer Forschung. Trotz mehrerer Beschwerden beim Deutschen Presserat, unter anderem von der Humboldt-Universität zu Berlin, befand dieser, dass presse-ethisch alles zulässig gewesen sei. In der aufgeheizten Stimmung zu jener Zeit scheint dies sehr fragwürdig.

Forschende erleben Wissenschaftsfeindlichkeit

So kontrovers man Themen aus der Wissenschaft auch (politisch) diskutieren mag, darf es nicht darüber hinwegtäuschen, dass die aktuelle Forschungslage zumeist eindeutig ist und auf einer gemeinsamen Arbeitsethik basiert, die allgemein anerkannt und über die Jahrhunderte entstanden ist. Trifft dies aber nicht auf eigene Interessen beziehungsweise Meinungen, wird schnell unsachlich dagegen argumentiert. Dies führt so weit, dass man Forschenden, deren Ergebnisse massiv abredet, ja sogar ablehnend gegenübersteht und damit auch dem wissenschaftlichen System. Dies spiegelt auch eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung von 2024 wider: 45 Prozent der befragten Forschenden gaben an, Formen der Wissenschaftsfeindlichkeit erlebt zu haben. 35 Prozent berichten vom Anzweifeln ihrer Kompetenz und 28 Prozent von unangemessenen Reaktionen auf Erkenntnisse. Am häufigsten, mit 51 Prozent, erleben Geisteswissenschaftler*innen mindestens eine Form der Wissenschaftsfeindlichkeit, am geringsten ist es mit „nur“ 41 Prozent bei Ingenieur*innen. Geht man auf die Anzweiflung der Kompetenz ein, liegen Natur- und Geisteswissenschaften mit knapp über 40 Prozent nahezu gleich auf. Die Studie geht des Weiteren darauf ein, dass öffentliche Beiträge verhindert werden sollten, Forschende bedroht werden und ihnen auch Straftaten widerfahren sind.

Es zeigt sich deutlich, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter schwierigen Bedingungen arbeiten. Wenn von mehr als einem Drittel deren Kompetenz angezweifelt und dies in der Öffentlichkeit kundgegeben wird, so erzeugt dies ein Ausmaß, dass aus meiner Sicht bereits zu sehen ist, viele in der Gesellschaft aber noch nicht überblicken. Unser Wissenschaftssystem wird massiv abgewertet. Gerade die Diskussionen im Bereich Klimawandel und erneuerbare Energien zeigen dies deutlich. Politik-Talkshows können hierbei verstärkend mitwirken. Wenn eine deutliche Mehrheit in der Wissenschaft einen Fakt anerkennt, kann eine Eins-zu-Eins-Diskussion mit Pro und Contra niemals den Stand der Forschung aufzeigen. Im Gegenteil, es nährt Zweifel an der Wissenschaft und höhlt unser Wissenschaftssystem aus, das doch so wichtig ist für die Entwicklungsfähigkeit unseres Landes und auch darüber hinaus.

Einsicht und hörbarer Aufschrei dagegen? Fehlanzeige!

Nach der BILD-Aktion „Die Lockdown-Macher“ gab es zwei Tage später am 06. Dezember 2021 einen Aufruf der Allianz der Wissenschaftsorganisationen zu mehr Sachlichkeit in Krisensituationen. Zu dieser Allianz gehören weit bekannte und anerkannte Institutionen wie die Max-Planck-Gesellschaft, die Leibniz-Gemeinschaft, die Hochschulrektorenkonferenz, die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und viele mehr. Kaum ein Medium nahm dies auf (wie etwa die Süddeutsche Zeitung und die Berliner Zeitung) … eine gesellschaftliche Diskussion darüber lässt sich bis heute vermissen, ist aber dringend geboten. Und zwar nicht nur im Bereich der Hochschulen, sondern in der gesamten Öffentlichkeit, sodass über alle Grenzen sowie Gesellschaftsschichten hinweg bis in die höchste Entscheidungsebene der Politik, unser Wissenschaftssystem die Anerkennung findet, die es benötigt. Der Respekt gegenüber den Forschenden sowie deren Arbeit und deren Ergebnissen muss in der Gesellschaft weit oben stehen, bei den Bürger*innen als auch in der Politik und Wirtschaft. Nur so lassen sich Probleme sowie Krisen bewältigen! Und vor allem könnten wir uns dann endlich wieder um die Sache kümmern und untereinander gewisse Gräben beseitigen.

Der Autor
Daniel Reichelt ist Lehrer für Physik und Politik/Wirtschaft/Recht mit 2. Staatsexamen und er forscht privat nach einem Kloster in seinem Heimatort.

Literaturverzeichnis

  1. WANG, Gang; LI, Guoqing; LIU Zhe; chool of Resources and Environmental Engineering, Ludong University, Yantai, Shandong Province, 264025, China; Ecological Monitoring Department, China National Environmental Monitoring Centre, Beijing, 100012, China; Januar 2023. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2215016123000055; letzter Zugriff: 09.10.2024
  2.  MILLER, Lee M., KEITH, David W.; School of Engineering and Applied Sciences, Harvard University, Cambridge, MA 02139, USA, Harvard Kennedy School, Cambridge, MA 02138, USA; Dezember 2018., https://keith.seas.harvard.edu/sites/hwpi.harvard.edu/files/tkg/files/climatic_impacts_of_wind_power.pdf?m=1538752648; letzter Zugriff: 09.10.2024.
  3.  https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/virologe-drosten-beschimpft-gericht-verwarnt-paar-19663590.html, letzter Zugriff: 09.10.2024.
  4. https://www.sueddeutsche.de/medien/presserat-bild-zeitung-lockdown-macher-1.5553888; letzter Zugriff: 09.10.2024.
  5. DZHW; BLÜMEL, Clemens; Anfeindungen gegen Forschende; Pressebericht; Hannover; April 2024. https://www.hiig.de/wp-content/uploads/2024/05/Erste-Ergebnisse_Umfrage-zu-Anfeindungen-gegen-Forschende.pdf; letzter Zugriff: 07.10.2024.
  6. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1193534/umfrage/vertrauen-in-wissenschaft-und-forschung/; letzter Zugriff: 09.10.2024.
  7. ALLIANZ DER WISSENSCHAFTSORGANISATIONEN; Köln; 06. Dezember 2021; https://www.allianz-der-wissenschaftsorganisationen.de/themen-stellungnahmen/aufruf-zu-mehr-sachlichkeit-in-krisensituationen/; letzter Zugriff: 09.10.2024.

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